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Geschichte des Kudurru

Nach Monaten der Hitze wurde es jetzt etwas kühler. Die Abgabe an den Tempel musste geliefert werden, also machte sich Kudurru auf den Weg in die Stadt. Der Herrscher Hammurabi1 sollte nicht auf seinen Anteil warten müssen. Nach zwei Stunden mit dem störrischen Esel kam er an die Stadttore von Babylon. So viele fremde Menschen, das war für ihn ungewohnt. Es war aber auch spannend und Angst vor den Fremden und Neugier auf das Treiben in den Straßen mischten sich.

Den Weg zum Tempel kannte er schon lange, seit er acht Jahre alt war, ist er ihn schon gegangen. Zuerst mit seinem älteren Bruder Igime-ili, der jetzt beim Militär war, und dann, als er alt genug war, auch allein.

Kurz vor der Tempelanlage fiel ihm ein großer Stein auf, schwarz, mit ganz vielen Ritzen darauf. Solche Ritzen hat er schon oft gesehen, wenn der Tempelverwalter seine Getreideabgabe abgemessen und auf Tontäfelchen Zeichen2 eingedrückt wurden. Als er einmal den Schreiber fragte, was das denn zu bedeute habe, bekam er nur ein mürrisches „Geht dich nichts an“ zur Antwort. Das hatte ihn damals schon geärgert und seitdem auch nicht mehr in Ruhe gelassen.

Dann war er auch schon an der Abgabestelle im Tempel, wo es bemerkenswert ruhig war. Nachdem sein Getreide abgemessen und die Zahl der Sila3 festgestellt worden war, machte der Schreiber mit kleinen Holzkeilen die üblichen Zeichen auf einem weichen Tontäfelchen. 4Kudurru nahm allen Mut zusammen und fragte, was diese Zeichen denn bedeuteten. „Wir schreiben auf, wieviel du abgeliefert hast. Wir können dann schauen, was du in den letzten Jahren geliefert hast. Da kannst du uns nicht betrügen, wenn du nächstes Jahr kommst.“. 5

Langsam entfernte er sich vom Tempel. Er war verärgert: Er hatte immer ehrlich seine Abgaben geliefert. Und er bewunderte dieses System: die Schrift auf den Täfelchen hielten fest, was er letztes Jahr abgeliefert hatte. Auf der anderen Seite hatte die Tempelverwaltung Macht über ihn und alle seine Freunde.1

Er nahm sich vor, mehr an dieser Macht teilzuhaben, die dem verleiht, der die Zeichen schreiben und lesen kann. Wieder kam er an dem großen schwarzen Stein vorbei. Ein anderer Mann stand davor und entzifferte die Zeichen. Kudurru bat ihn, zu sagen, was diese Zeichen bedeuteten.

„Du kannst nicht lesen?“ fragte ihn der Mann.

„Nein, das brauche ich auch nicht, wenn ich den Acker meiner Familie bearbeite.“

„Diese Zeichen solltest du aber erkennen. Die sagen dir, welche Regeln König Hammurabi für uns alle festgesetzt hat.“

„Kannst du mir eine Regel nennen?“

„Ja. Hier habe ich gelesen:‚§ 42 Gesetzt, ein Mann hat ein Feld zur Bebauung gepachtet, hat aber auf dem Feld kein Getreide erzeugt, so wird man ihn überführen, dass er an dem Felde die (übernommene) Arbeit nicht geleistet hat, und er wird dem Eigentümer Getreide entsprechend des Feldes seines Nachbar geben.‘“

„Ich will mehr über diese Regeln wissen“

„Dann lerne Lesen und Schreiben“

„Aber wie soll ich das machen? Ich bin arm, ich komme aus einer Bauernfamilie. Und lesen und schreiben können nur die lernen, die aus einer Schreiberfamilie kommen.“

„Na dann, komm mit mir mit. Mein Name ist übrigens Naram-Sin“

Kudurru folgte Naram-Sin durch Babylon und sie kamen bald an ein Haus, das etwas abseits der großen Straßen lag.

„Komm mit rein, ich kann dir ein wenig Bier anbieten“

„ Ja gerne, es ist auch wieder ganz schön heiß geworden“

Nachdem sie durch die Tür in einen Innenhof getreten waren, kam ihnen ein Sklave entgegen. Naram-Sin beuftragte ihn, Bier zu holen und das Schreibzeug dazu.

Als der Sklave zurückkam, setzte er sich mit Kudurru und Naram-Sin an einen Tisch. Kudurru wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Sklave sich an den Tisch setzte

„Das ist Nabonahid, er ist Schuldsklave und Schreiber bei uns hier im Haushalt. Von ihm habe ich Lesen und Schreiben gelernt. Du kannst dir gleich von ihm zeigen Lassen, wie die Keile in den weichen Lehm eingedrückt werden und was sie bedeuten.“

Nach einer Weile konnte Kurdurru schon ganz gut Keile in die Tontafeln drücken. Als er dann nach Hause ging, überlegte er sich, auch einen solchen Schuldsklaven in seinen Haushalt zu bringen. Und er fühlte sich auch nicht mehr so machtlos wie bei der Abgabe seines Tributs. Er würde alles aufschreiben, nicht nur Listen über die Ernte oder Pachtverträge. Nichts sollte mehr vergessen werden, alles notiert, damit auch seine Kinder und Kindeskinder lesen können, wie er so gelebt hat.


1 Schrift verleiht Macht über die Interpretation der Vergangenheit. Sie bildet ein kollektives Gedächtnis, dass von den jeweils Herrschenden geformt wird. Zu Zeiten als es noch keine Schrift gab, fand menschliche Kommunikation auf unsicherer Basis statt. Mit der Schrift war die Informationsübermittlung und

1Hammurabi lebte von 1792 bis 1750 v.u.Z. In seiner Regierungszeit wurde einer der ersten zusammenhängende Rechtssammlung veröffentlicht, der Codex Hammurapi. Sie befindet sich auf einer Steinstele, auf der der Text des Codex Hammurapi in 51 Kolumnen zu je rund 80 Zeilen eingemeißelt ist. Fun Fact: Die Standardzeilenbreite für E-Mails beträgt ebenfalls 80 Zeichen. Grund dafür war die Zeilenbreite von Lochkarten, die Grundlage maschineller Verarbeitung von Programmen und Daten vor der Entwicklung elektromagnetischer Verfahren waren.

2Die Theorie der Zeichen heißt Semiotik. Zu Beginn der Schriftentwicklung wurden über Zeichnungen auf reale Gegenstände verwiesen. Erst mit zunehmender Abstraktion wurden diese Abbilder durch Symbole, dann durch Lautzeichen ersetzt.

3Sila war das „Standardhohlmaß“ in Mesopotamien. Es entsprach 0,48 Liter. Es ist eine erste Normung eines Maßes. https://de.wikipedia.org/wiki/Sila_(Einheit)

4Zählen, Messen, Rechnen waren Fähigkeiten, die mit der Ausdehnung der Landwirtschaft und der Verwaltung großer Bevölkerungsstrukturen entstanden. Die ersten schriftlichen Dokumente wurden in den Tempelverwaltungen und in der Buchhaltung der Händler in Sumer etwa 3000 v.u.Z. entwickelt: Lagerlisten, Verträge, Abgaben an die Tempel etc. (Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen zweitausendeins, o. Jg.) Erst später wurde Schrift auch anders verwendet: Gesetzgebung, private Mitteilungen, Literatur..

5Die Entwicklung von Schrift veränderte die Gesellschaften und das Alltagsleben der Menschen tiefgreifend.
Die Informationen lösten sich von den Beschränkungen von Raum und Zeit. Durch Schrift entstand ein gesellschaftliches Archiv aller Ereignisse, auf das sich die Teilnehmenden in einem Kulturkreis beziehen konnten.. Gleichzeitig veränderte es die Machtstrukturen: Sie wurden einerseits gefestigt, indem sie festgeschrieben wurden und durch Herrschaftswissen ein Gefälle zwischen den Schreibenden und den Analphabeten gab. Andererseits aber auch gelockert, indem mehr Menschen Zugang zu Informationen erhielten.